ESG-Regulierung im Umbruch: Wenn Nachhaltigkeit zur Bürokratiefalle wird
Die geplante Ausweitung der ESG-Berichterstattung sorgt in Deutschland für hohe Kosten und viel Verwirrung – besonders im Mittelstand. Erfahren Sie, warum die verspätete Umsetzung der EU-Vorgaben und widersprüchliche Signale aus Brüssel das Chaos befeuern und was Unternehmen jetzt wissen sollten.
Einleitung
In den letzten Jahren hat das Thema ESG (Environmental, Social, Governance) stark an Bedeutung gewonnen. Die Idee dahinter: Unternehmen sollen Rechenschaft über ihre Umwelt- und Sozialstandards sowie ihre Unternehmensführung ablegen. Was anfangs als freiwillige Initiative großer Konzerne begann, hat sich längst zu einer EU-weiten Regulierung entwickelt, die nach und nach immer mehr Unternehmen erfasst.
Doch gerade in Deutschland herrscht derzeit Chaos: Die ursprünglich geplante neue EU-Richtlinie – die sogenannte Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) – wurde in Berlin nicht rechtzeitig in nationales Recht umgesetzt. Parallel dazu sendet die EU-Kommission Signale, dass sie die ESG-Bürokratie vereinfachen will, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. In diesem Spannungsfeld stehen Tausende Unternehmen, die nicht wissen, wie sie sich rechtssicher verhalten sollen.
Was steckt hinter der ESG-Regulierung?
Von der NFRD zur CSRD
- NFRD (Non-Financial Reporting Directive): Seit ein paar Jahren müssen große, börsennotierte Unternehmen und „Unternehmen von öffentlichem Interesse“ (in Deutschland rund 500) über ihren Umgang mit Umwelt- und Sozialthemen berichten.
- CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive): Diese neue Richtlinie sollte die bisherige ESG-Berichterstattung ausweiten und verschärfen. Ziel: bessere Datenqualität, einheitliche Standards und mehr Vergleichbarkeit zwischen Unternehmen.
Ursprüngliche Pläne und aktuelle Lage
- Frist verpasst: Deutschland hatte bis Juli 2023 Zeit, die CSRD in nationales Recht zu gießen – blieb aber untätig.
- Weitere Verzögerungen: Angesichts politischer Krisen, Koalitionsstreit und nun möglicher Neuwahlen ist nicht klar, wann die Umsetzung erfolgen wird.
- Widersprüchliche Signale: Gleichzeitig kündigte die EU-Kommission im November 2023 an, die Bürokratie durch die sogenannte Budapester Erklärung zu entschärfen.
Ergebnis: Viele Unternehmen haben sich bereits auf die CSRD vorbereitet, stehen nun aber vor einem „Nicht-Gesetz“, das möglicherweise deutlich abgeschwächt wird. Rechtsunsicherheit und potenziell hohe Kosten sind die Folgen.
Auswirkungen auf Unternehmen
Wer ist betroffen?
- Bisher: Nur ca. 500 große, kapitalmarktorientierte Unternehmen in Deutschland.
- Zukünftig: Schätzungen zufolge 13.000 bis 15.000 Unternehmen, inklusive vieler Mittelständler, müssten eigene ESG-Berichte erstellen.
- Indirekte Betroffene: Selbst Betriebe, die nicht direkt berichtspflichtig sind, können durch Lieferanten- oder Bankenanforderungen zur Datenerfassung gezwungen werden.
Bürokratie-Chaos und Kosten
- Datenflut: Bis zu 1200 Datenpunkte allein im Umweltbereich (E) sollen erhoben werden. Hinzu kommen Angaben zu sozialen Themen (S) und Unternehmensführung (G).
- Hoher Aufwand: Laut aktuellen Schätzungen verursacht die Umsetzung Einmalkosten von 1,4 Mrd. € und jährliche Folgekosten von rund 750 Mio. € allein in Deutschland.
- Komplexe Lieferketten: Unternehmen sollen nicht nur ihren eigenen Energie- und Wasserverbrauch erfassen, sondern auch die Werte ihrer Lieferanten – häufig weltweit.
Rechtsunsicherheit
- Alte NFRD vs. neue CSRD: Die NFRD ist formal noch gültig, die CSRD wiederum nicht rechtskräftig umgesetzt, könnte aber in absehbarer Zeit angepasst werden.
- Praktische Folgen: Viele Unternehmen wählen nun einen „Mischmasch“ an Berichtsinhalten, um sich zumindest teilweise abzusichern.
Zusätzliche interessante Fakten und Hintergründe
- Globales ESG-Wachstum: Weltweit fließen immer mehr Investitionen in sogenannte „nachhaltige“ Fonds. Aktuellen Schätzungen zufolge könnte das ESG-Anlagevolumen bis 2030 auf über 50 Billionen US-Dollar anwachsen.
- Vorreiter Europa: Die EU gehört mit ihrem „Green Deal“ zu den strengsten und ehrgeizigsten Regionen in puncto ESG-Vorgaben. Allerdings führt dies auch zu Diskussionen über Wettbewerbsnachteile für europäische Unternehmen.
- Kontroversen um Datenqualität: Viele ESG-Daten stammen aus freiwilligen Erhebungen. Die Qualität und Vergleichbarkeit sind oft fraglich, weil unabhängige Prüfinstanzen fehlen oder nur stichprobenartig kontrollieren können.
- Lieferkettengesetz: In Deutschland gilt bereits seit 2023 ein eigenes Lieferkettengesetz, das Unternehmen ab einer bestimmten Größe zur Prüfung von Menschenrechts- und Umweltstandards in ihren globalen Lieferketten verpflichtet. Das greift teils eng in die ESG-Berichterstattung ein.
- Zukunft der ESG-Berichterstattung: Einige Branchenverbände fordern harmonisierte digitale Tools, die kleineren Betrieben das Datenmanagement erleichtern. Andere plädieren für eine deutlich strengere externe Prüfung durch Wirtschaftsprüfer, um „Greenwashing“ zu verhindern.
Was sollten Unternehmen jetzt tun?
- Aktuell gültige Vorgaben prüfen: Die bisherige NFRD gilt formal weiter – Firmen, die bislang berichten mussten, dürfen nicht einfach aufhören.
- Zukunftsorientiert planen: Viele Unternehmen haben sich bereits auf die CSRD-Standards vorbereitet. Trotz möglicher Lockerungen empfiehlt es sich, die wichtigsten Datenpunkte zu erfassen, um nicht völlig unvorbereitet zu sein.
- Lieferanten einbinden: Gerade im Mittelstand kann die Zusammenarbeit mit Lieferanten zum Engpass werden. Frühzeitige Abstimmung und klare Datenerhebungs-Anforderungen sind wichtig.
- Externe Beratung nutzen: Für Unternehmen, die noch nie Nachhaltigkeitsberichte erstellt haben, kann sich eine Beratung durch ESG-Experten, Wirtschaftsprüfer oder spezialisierte Kanzleien lohnen.
- Aktuelle politische Entwicklung verfolgen: Da sich in Brüssel und Berlin gerade viel bewegt, sollten Unternehmen diese Änderungen eng beobachten oder sich in Verbänden austauschen.
Fazit
Die ESG-Regulierung in Europa bleibt vorerst ein politisches und bürokratisches Minenfeld. Insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen ist die Unsicherheit groß, wie sie den Spagat zwischen potenziell hohen Berichtspflichten und möglichen Lockerungen meistern sollen. Gleichzeitig steigt der Druck von Investoren, Kunden und Geschäftspartnern, mehr Transparenz zu ESG-Themen zu liefern.
Trotz aller Kritik: Wer sich frühzeitig mit den relevanten ESG-Kennzahlen auseinandersetzt, sichert sich nicht nur eine bessere Compliance-Position, sondern kann nachhaltige Prozesse im Unternehmen vorantreiben. Langfristig kann dies – trotz der anfangs hohen Kosten – ein Wettbewerbsvorteil sein, wenn Kunden und Investoren verstärkt auf glaubwürdige „Green Credentials“ schauen.
Weiterführende Informationen
- Originalstudie von Christof Schürmann (Flossbach von Storch Research Institute): „ESG-Berichterstattung Kraut und Rüben“
- Offizielle Seite der EU-Kommission zum Thema ESG-Reporting: EU-Kommission – Sustainable Finance
- Lieferkettengesetz in Deutschland: Informationen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales